So wird das erste Semester weniger einsam

So wird das erste Semester weniger einsam

Die Coronakrise hat den Studienstart auf einen Schlag verändert. Der Hochschulbetrieb und damit der soziale Kontakt sind auf digitale Medien beschränkt. Doch auch darin lässt sich netzwerken.

Herbert Dagbegni weiß genau wie es sich anfühlt, allein zu sein. Vor gut einem Jahr ist er nach Deutschland gezogen – 7626 Kilometer von seinem Heimatland Elfenbeinküste entfernt. Er kannte niemanden, doch das sollte sich zügig ändern: „Ich wollte mich so schnell wie möglich integrieren“, sagt der heute 21-Jährige. Er belegte einen Integrationskurs, aber versuchte daneben auch von deutschen Muttersprachlern zu lernen, die er bei Facebook kennenlernte. Ein Jahr später spricht er gutes Deutsch. Es sei nicht immer einfach gewesen, sagt er, aber in einem fremden Land müsse man eben lernen, auf die Leute zuzugehen. Diese Fähigkeiten wird er bald wieder brauchen, denn ab November fängt er an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg ein Studium der Politikwissenschaften an.

Hybridsemester nennt die Hochschule die Idee, bei der Dagbegni Veranstaltungen mal vor Ort in den Hörsälen und mal auf seinem Bildschirm digital zuhause besuchen wird. Vorlesungen mit bis zu 200 Teilnehmenden sind aktuell auf dem Campus erlaubt. Politikwissenschaften studieren jedoch jährlich etwa 500 Personen. Voraussichtlich wird Herbert Dagbegni den überwiegenden Teil des Studiums online absolvieren. Trotz erschwerter Bedingungen Kontakt zu den Kommilitonen herzustellen, ist es für ihn kein Problem – eher ein Dèjá-vu. Für viele seiner Erstsemester-Kommilitonen könnte das aber zur Belastungsprobe werden.

Es war schon immer ein ungeschriebenes Gesetz der akademischen Ausbildung: Wenn auch sonst nichts hängen bleibt, zumindest neue Freunde lernt man im Studium kennen. Denn Hochschulen sind die perfekten Orte zum Kontakteknüpfen. Viele junge Menschen, die gerade erst in die Stadt gezogen sind und noch kaum jemanden kennen, werden an einem Ort auf relativ engem Raum für längere Zeit zusammengesetzt. Hier entstehen Freundschaften wie Partnerschaften, aber auch Mitgründer für ein Start-up und zukünftige Kollegen oder gar Chefs lernen sich kennen.

Per Zufall zu den engsten Freunden

Die meisten dieser Beziehungen entstehen bereits in der Orientierungswoche, so Christian Stegbauer. „Der Zufall ist der häufigste Grund für die Entstehung von Freundschaften an der Hochschule“, sagt der Soziologe, der an der Universität Frankfurt erforscht, wie Netzwerke zwischen Menschen entstehen. Oft ist es so, dass man mit den zukünftig engsten Freunden einfach zufällig am gleichen Tisch gesessen habe, so Stegbauer. Doch der Infektionsschutz schränkt diesen Automatismus derzeit erheblich ein. In ganz Europa haben 85 Prozent aller Hochschulen ihre Lehre auf digitale Formate umgestellt, wie eine Umfrage der International Association of Universities ergab. So können Studierende nicht auf regen Austausch auf Partys, in der Mensa und im Hörsaal hoffen. Wer sich damit nicht zufriedengeben will, muss lernen, anders zu netzwerken.

So wie Herbert Dagbegni. Er weiß seit seiner Ankunft in Deutschland, wie wichtig der soziale Austausch auch beim Lernen ist. Deshalb versucht er ihn zum Semesterstart mit den Methoden zu schaffen, die ihm vor einem Jahr schon geholfen haben: Er sucht Kontakt über die sozialen Medien. Die ersten Freunde in Bamberg hat er in einer Facebook-Gruppe für Erstsemester kennengelernt. Schon im Juli stellte er dort erste organisatorische Fragen zum Anfertigen des Stundenplans, obwohl das Studium erst vier Monate später anfangen sollte. Selbst der offizielle Account der Bamberger Universität antwortete ihm. 

Überhaupt versucht die Otto-Friedrich-Universität Erstsemestern den Start trotz Corona zu erleichtern. Ab dem 19. Oktober sollen sie in einer virtuellen Orientierungswoche die wichtigsten Onlinedienste kennenlernen, die sie während des Studiums begleiten. Wie einzelne Studiengänge ablaufen, erfahren sie in Einführungsvideos und im Videogespräch mit dem Lehrpersonal. Herbert Dagbegni hat mittlerweile mit drei Kommilitonen regelmäßig Kontakt, kann sich über das bevorstehende Studium genauso wie über Privates austauschen. Sein Patentrezept: Offen auf Menschen zugehen.

Keine neuen Knotenpunkte

Doch nicht jedem Studienanfänger fällt es so leicht wie ihm, neue Kontakte zu knüpfen. Emma Lechcreck startete im April mit dem Studium der Sonderpädagogik an der Universität in Paderborn. Nun blickt sie auf ein einsames erstes Semester zurück. „Es ist eigentlich nicht meine Art, keinen Anschluss zu finden“, sagt die 21-Jährige. Doch ihr Netzwerk hat kaum neue Knotenpunkte gewonnen. Orientierungshilfe der Universität gab es kaum. Sie bekam unter anderem einen Raumplan der Universität zugeschickt. Im Onlinestudium nicht gerade hilfreich. Auch von den Mitstudierenden aus der Fachschaft hätte sie mehr Initiative erwartet, sich virtuell kennenzulernen. Nur ein einziges Mal gab es zu Beginn des Studiums ein Treffen via Skype. Das wirkte auf die Studentin jedoch eher chaotisch als hilfreich.

Mit ihren Mitstudierenden hatte Emma eine WhatsApp-Gruppe. Doch ein persönliches Treffen ist im gesamten Semester nur einmal zustande gekommen, nach den ersten Lockerungen der Kontaktbeschränkungen. Zum Treffpunkt kamen nach Angaben der Studentin allerdings nur sechs der 53 Mitglieder. Alle anderen hat sie noch nie gesehen, allenfalls gehört, in einigen der wenigen Videokonferenzen, zu denen die Professoren sie zusammenschalteten. Zumindest hier hätte Emma Lechcreck die Möglichkeit gehabt, Kontakt aufzunehmen. Doch sie konnte sich aus Gründen nicht dazu überwinden, die jeder nachvollziehen kann, der während der Pandemie an Massen-Zoom-Calls teilnahm. Alle hatten ihre Kameras ausgeschaltet, Lechreck konnte sich zu keiner Person ein Bild machen. „Es war alles super anonym“, sagt sie.

Schädliche Distanz

Für den Kontaktaufbau ist diese digitale Distanz schädlich, weiß der Netzwerkforscher Christian Stegbauer: Die Studierenden verbinden sich besonders mit Kommilitonen, die ihnen selbst ähneln. Aussehen, Alter oder Herkunft sind Kriterien, die dazu beitragen, dass Kontakte entstehen. Das Ausschalten des Videos erschwert die Bindung, da man keinerlei Verbindendes sehen kann. Wer neu in eine Stadt gezogen ist und noch keinen festen Freundeskreis hat, ist laut dem Experten zwar grundsätzlich offener für neue Kontakte – aber auch dazu brauche es den persönlichen Austausch. „Tiefe Beziehungen entstehen nur bei persönlichem Kontakt“, sagt Stegbauer. Treffen Menschen regelmäßig im echten Leben aufeinander, entstünden engmaschigere Netzwerke als beim oberflächlichen Chat im digitalen Raum.

Nina Reckendorf, Sprecherin der Universität Paderborn, sieht hier Nachholbedarf: „Der persönliche Kontakt zu anderen Kommilitonen, von dem ein Studium lebt, kann nicht durch die mediale Kommunikation ersetzt werden.“ Obwohl das digitale Semester überraschend gut funktioniert habe, sei es deshalb keine Dauerlösung, so Reckendorf. Im kommenden Semester lehren Professoren zumindest teilweise wieder in Präsenzveranstaltungen. Es steht ein Hybridsemester an, genau wie in Bamberg und an vielen anderen Hochschulen in Deutschland. Für die Studierenden heißt das, normales Netzwerken wird in absehbarer Zeit wenn überhaupt nur eingeschränkt möglich sein. „In dieser Ausnahmesituation“, so der Netzwerkforscher Christian Stegbauer, „sollten die Studierenden versuchen, auch entgegen ihrer Gewohnheiten Kontakte zu knüpfen.“

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